- Rosa
Und plötzlich hatten wir ein Boot!
Updated: Aug 6, 2021
Im März/April 2019 charterten Oskar und ich wieder ein kleines Motorboot und verbrachten zwei Wochen auf den Gewässern rund um Berlin. Die Saison hat gerade erst begonnen, dementsprechend war es kalt und die meisten Häfen waren noch im Winterschlaf.
Wir beide genossen es, gemeinsam mit dem Boot unterwegs zu sein und uns treiben zu lassen. Zeit und Entfernung haben auf einem Boot eine herrlich andere Dimension und obwohl wir nicht weit weg von Berlin waren, fühlten wir uns dem Alltag sehr fern. Zu zweit auf einem kleinen Boot unterwegs zu sein bedeutet, dass man viel Zeit für sowohl für tiefe Gespräche als auch für Albereien hat. So stellten wir fest, dass wir beide sehr gerne mal für längere Zeit, d.h. ein paar Wochen oder Monate miteinander mit einem Boot unterwegs wären- mit einem Segelboot selbstverständlich!
So träumten und fantasierten wir vor uns hin, während wir über die Havel schipperten und der Frühling langsam erwachte. Uns fiel auf, dass der ideale Zeitraum für eine solche Reise nach meinem Studium, also im Sommer 2021, sein würde. Ich wollte nach dem Studium eh Reisen, habe dafür Geld gespart und Oskar ist bei seiner Arbeit nicht festgenagelt. Auch wenn wir beide schon vorher gerne segelten: einige Monate mit einem Segelboot unterwegs zu sein wurde für uns beide erst ein konkreter Traum und Wunsch, als wir uns kennenlernten.
Wir überlegten also, wie eine Segelreise für einige Monate aussehen könnte. Als wir kurz recherchierten was Charter-Segelboot im Mittelmeer für einen ganzen Sommer kosten würden (auch wenn es ein kleines und vergleichsweise günstiges Boot ist), schien der Wunsch in weite Ferne zu rücken. Selbst wenn man sich den Preis zu zweit teilt, ist es eine finanzielle Dimension, die wir nicht stemmen könnten.
Während wir mit dem Motorboot auf den Berliner Gewässern unterwegs waren, passierte uns ein Missgeschick: Wir übersahen einen im Wasser treibenden Baumstamm und es machte laut "Rumms". Zwar gab es keinen für uns sichtbaren Schaden, aber da wir uns an die Absprachen hielten, meldeten wir dies dem Vercharterer. Am Ende war es viel Drama um nichts (es war nur ein kleiner Kratzer im Antifouling) aber wir verloren viel Zeit, Nerven und 300 Euro Kaution. So stellten wir fest: 4. Wir wollen kein Boot chartern, denn wenn es unser eigenes Boot gewesen wäre, dann wäre uns diese "kleine Streichelei" vom Baumstamm egal gewesen.
Ich kann mich noch genau erinnern, es war der 8. April 2019 und wir waren in Brandenburg an der Havel, wo wir für eine Nacht einen Liegeplatz in einem kleinen charmanten Stadthafen hatten. Oskar kam frisch geduscht zurück an Bord und sagte: "Rosa, mir ist unter der Dusche eine Idee gekommen. Warum kaufen wir nicht einfach ein Segelboot, sind damit ein paar Monate unterwegs und verkaufen es dann wieder?". Gute Frage, eigentlich spricht nichts dagegen! In den nächsten Stunden schlossen sich an diese Frage viele weitere an: Wo bekommen wir das Segelboot her? Und was kostet sowas? Wie und wo verkaufen wir es wieder? Worauf muss man bei einem gebrauchten Segelboot achten? Wo wollen wir unterwegs sein?
Insbesondere die preisliche Frage war relevant, da sich ein eigenes Segelboot natürlich finanziell nur lohnt, wenn es den Preis eines Charterbootes nicht übersteigt. Also schauten wir beide im Internet, was ein gebrauchtes Boot überhaupt kostet. Natürlich gibt es eine sehr große preisliche Spanne für gebrauchte Segelboote aber wir stellten fest, dass man für einen guten Preis ein renovierungsbedürftiges Boot kaufen kann. Zwar muss man dann noch viel Zeit und Geld reinstecken, kann es dann aber auch verkaufen. Günstiger als mehrere Monate zu chartern ist es dann allemal!
Dann stellten sich die nächsten beiden Fragen: wo bekommen wir ein gebrauchtes Segelboot her? Und wie läuft so eine Besichtigung ab? Wir schauten auf gut Glück bei eBay-Kleinanzeigen in Berlin und Brandenburg, die meisten Boote waren aber kleine Jollen, Tagessegler, Boote mit Hubkiel oder umlegbarem Mast... oder einfach zu teuer. Aber zwischen den Anzeigen entdeckten wir ein Juwel, das genau zu unseren Anforderungen passte: eine Hurley 27. Die Hurley hat einen Langkiel, das ist in den Berliner Gewässern zwar völlig fehl am Platz aber für uns ideal, wenn wir aufs Meer hinaus wollen. Zudem hat das Boot im Gegensatz zu vielen anderen Niedrig-Budget-Booten Stehhöhe, was ebenfalls notwendig ist wenn wir mehrere Monate unterwegs sein wollen. Die Hurley 27 hat schon viele Jahre auf dem Buckel (Baujahr 1973), ist aber segelklar und robust.
Der größte Nachteil an dem Boot: es heißt Slow Motion 2.0!!! Wie kommt das unschuldige Boot denn zu diesem furchtbaren Namen?
Wir waren von der Anzeige begeistert und entschieden: wir schauen uns die Hurley 27 mal an. Wir kaufen sie nicht, wir wollen nur mal schauen wie ein gebrauchtes Boot aussehen kann und "irgendwo muss man ja mit der Suche anfangen". Aber wie gesagt, wir versprachen uns, nicht leichtsinnig zu sein und die Hurley 27 auf keinen Fall sofort zu kaufen. Denn: was sollen wir denn jetzt auf einmal mit einem Boot?!
Wir riefen den Eigner an, vereinbarten einen Termin und fuhren mit dem Motorboot nach Werder. Am 10. April hatten wir den Besichtigungstermin und plötzlich fühlte sich alles sehr real und erwachsen an. Die Hurley gefiel uns auf Anhieb: ein bisschen "Shabby Chic" (nett gesagt), aber charmant, Holzvertäfelungen im Innenraum, Stehhöhe, schöne alte Bauweise mit elegante Form und mit allem ausgestattet, was man für einen kleinen Segeltörn braucht. Der Preis gefiel uns aber uns war klar, dass für eine lange Reise noch viele Nachrüstungen notwendig sind. Aber Moment mal, wir wollten das Boot doch nur anschauen und auf keinen Fall kaufen! Es ist schließlich das erstbeste Segelboot, das wir besichtigen! Die Eigner wollten ihre Slow Motion 2.0 schnellstmöglich verkaufen, da sie ein größeres, neueres Segelboot gekauft haben (und die Hurley 27 für das Segelrevier ungeeignet fanden), das der Slow Motion 2.0 den Liegeplatz im Hafen in Werder wegnahm. Am kommenden Wochenende sollte ein Kran zum Hafen kommen und das Boot ins Wasser kranen... da sie aber keinen Liegeplatz mehr hatten, musste der Verkauf bis zum Wochenende abgewickelt sein. Oskar und ich signalisiertem dem Eigner, dass wir Interesse hatten aber noch Bedenkzeit brauchten.
So spazierten wir wie im Rausch zurück zu unserem gecharterten Motorboot. Was, wenn es doch das perfekte Boot für uns ist? Eigentlich wollten wir erst 2021 kurz vor Beginn unserer Reise ein Boot kaufen- was sollen wir denn jetzt mit einem Boot? Aber der Preis ist gut! Aber vielleicht ist es Schrott und taugt nicht was es versprich? Und vielleicht werden wir nur abgezockt? Oder jemand anderes kommt uns zuvor und wir ärgern uns später, weil wir zu lange gezögert haben? Wir waren also im Konflikt... aber trotzdem sehr glücklich bei diesen Überlegungen.
Ziemlich schnell wurde uns beiden klar: wir haben keine Ahnung von gebrauchten Booten. Den Gedanken hatten wir zwar schon am Anfang, er wurde aber umso offensichtlicher, als wir überlegte ob das Boot seinen Preis wert ist und was wir wohl noch an Zeit und Geld reinstecken müssten. So entschieden wir, einen Bootsgutachter zu engagieren. Wir wollten schließlich keinen völligen Fehlkauf, den wir wenig später bereuen! Gesagt, getan: Wir vereinbarten einen weiteren Besichtigungstermin für den 11. April und brachten den Gutachter mit. Er schaute alles sorgfältig an und war mit dem Gesamtpaket einverstanden. Er meinte, wir können mit dem Boot für diesen Preis nichts falsch machen, es ist gut geeignet für unsere Pläne und es ist seetüchtig wenn wir folgende sicherheitsrelevanten Umbauten beachten: 1. das stehende Gut muss irgendwann erneuert werden (da das Alter unklar ist) , 2. eine neue Badeleiter anbringen mit der man sich auch bei schlechtem Wetter wieder ins Boot retten kann, 3. die Borddurchlässe erneuern.
Nach dem Gutachten, dass uns quasi den Segen für den Kauf gab, wurde der ganze Plan plötzlich sehr konkret. Wir kaufen ein Segelboot? Einfach so? Aber... wir kennen uns doch erst seit einem guten halben Jahr! Natürlich mischten sich in die Euphorie auch Zweifel und Sorgen. Werden uns alle für verrückt halten? Sind wir womöglich sogar verrückt? Werden wir es uns leisten können, ein Boot umzubauen? Was machen wir mit dem Boot bis wir in einem Jahr losfahren? Und vor allem: was sagen unsere Familien und Freunde? Bisher hatten wir mit niemandem darüber gesprochen, da es sich nach einem so verrückten Plan anfühlte, dass wir es "geheim" hielten. Wenn wir mit anderen darüber sprechen, dann könnten sie es uns schließlich ausreden... denn vernünftig betrachtet, wirkte das alles wahrscheinlich sehr leichtsinnig. Nach dem Gutachten waren wir aber so weit, mal vorsichtig unseren Familien bzw. engen Freunden von unserem Plan zu berichten und nach ihrer Meinung zu fragen. Überraschenderweise waren sie begeistert! Natürlich war die erste Reaktion bei allen eine perplexe Ungläubigkeit. Verständlich, schließlich kennen wir uns nicht lange, wollen spontan ein Segelboot kaufen und damit mehrere Monate unterwegs sein! Aber: niemand reagierte besorgt und wir wurden von allen Seiten bestärkt. Das tat sehr gut und bestärkte unsere Überlegungen!
Nun ergaben sich aber neue Fragen, denn wenn wir das Boot kaufen, dann brauchen wir einen Liegeplatz. Wo, ab wann, wie teuer ist ein Liegeplatz in/um Berlin? Für uns war wichtig, dass es ein Hafen sein muss, der gut erreichbar ist. Die Müritz beispielsweise mag ja ein schönes, großes Segelrevier sein, aber wenn man jedes Mal auf ein Auto angewiesen ist und eine lange An- und Abfahrt hat, dann überlegt man es sich dreimal, ob man zum Boot fährt. Außerdem wollten wir ungerne einem Verein beitreten, da zwar die Liegegebühren vergleichsweise günstig sind, ein Verein aber auch Zeit und Energie kostet. Die Zeit wollten wir lieber mit dem Boot verbringen statt für den Verein Aufgaben (z.B. Wiese harken) zu übernehmen. Nach kurzer Recherche fanden wir (wieder auf eBay Kleinanzeigen!) ein Angebot für einen Liegeplatz am Wannsee. Die Anzeige listete keine konkreten Preise auf, somit riefen wir den Hafenmeister an. Der Hafenmeister erzählte uns, dass "sein" Hafen die größte Düne im Umkreis beherberge und auf dem Hafengrundstück mehr Sand aufgeschüttet sei als beim Strandbad Wannsee. Das Hafengrundstück sei eigentlich ein Baugrundstück, das aber noch auf die Bebauung warte und sich die Natur dieses Bauland und die aufgeschüttete Sanddüne langsam zurückerobert habe. Er machte uns schon am Telefon klar, dass er entscheide, wer in diesem Hafen einen Liegeplatz erhalte. Nur Leute, die ihm sympathisch und auch ordentlich seien, erhalten von ihm einen Mietvertrag. Der Hafen sei "kein Schickimicki"-Hafen, es gäbe keine Duschen und kein Internet, aber Wasser und Strom seien im Preis inbegriffen. Der Vertrag sei auf sechs Monate befristet, damit er Mieter auch schnell wieder loswerden kann, wenn er sie nicht mag oder sie sich nicht an seine Regeln hielten. Ein Liegeplatz für ein Boot unserer Länge sei frei und koste 160 Euro pro Monat, Nebenkosten gäbe es keine. Die Beschreibung des Hafens, seine Regeln und der überraschend niedrige Preis (im Vergleich mit anderen Liegeplätzen in der Nähe von Berlin) waren uns etwas suspekt, so dass wir uns entschieden, den Hafen anzuschauen.
Am 12.April besichtigten wir bei kaltem, grauen und verregnetem Aprilwetter den Hafen. Das Wort "Hafen" ist maßlos übertrieben und die romantische Schilderung der naturbelassenen Sanddüne ebenfalls: Das Grundstück ist eine Brachfläche, die verwahrlost und ungepflegt aussieht, eingezäunt mit einem heruntergekommenen Metallzaun und mit einem Fahrrad-Zahlenschloss abgeschlossen. Die "Düne" ist aufgeschütteter Sand und Bauschutt, die "Natur" sind Unkraut und Gestrüpp. Es gibt kein Haus, nur einen winzigen Schuppen und ein Dixi-Klo. Von dem Grundstück gehen zwei Stege ab und bieten pro Steg ca. 20 Booten einen Liegeplatz. Ein Boot war heruntergekommener als das nächste und die meisten sahen weder wasserdicht noch betretbar aus. Bei einem Liegeplatz schaute nur ein Mast schräg aus dem Wasser, da sei ein Boot gesunken und der Eigner habe sich nicht mal um die Entsorgung gekümmert. Stattdessen zahlt er weiter monatlich seine Miete. Der "Hafenmeister" (dessen Name ich nicht nenne, der aber für Berliner Verhältnisse "Seebär"-mäßig aussah und redete) zeigte uns den Hafen und lud uns zu einem Gespräch auf sein Motorboot ein. Er erklärt uns nochmal, dass er mit uns kurzen Prozess machen und uns rausschmeißen wird, wenn er uns nicht mag und dass wir ihm keine Arbeit machen sollen. Das Dixi-Klo sei sauber zu halten und nicht für die Entsorgung von Chemie-Toiletten gedacht. Wir gingen den Vertrag durch, den er mit ungefähr diesen Worten kommentierte: "Der Besitzer dieses Grundstücks hat nichts mit dem Hafen zu tun, sondern überlässt alles Organisatorische mir. Für den Vertrag bin ich nicht zuständig aber ich finde, wenn man vernünftigen Menschenverstand hat, dann kann man diese Klauseln nicht unterschreiben". Oskar und ich schauten den Vertrag an und waren trotz seiner Warnung beide der Meinung, dass wir guten Gewissens unterschreiben könnten. Der Hafenmeister erzählte uns aus seinem Leben und vom Hafen, wir saßen mit großen Augen im Salon seines Motorboots und staunten. Nach dem Gespräch zeigte er uns den potenziellen Liegeplatz.
Die Entscheidung fiel Oskar und mir leicht. Natürlich nahmen wir den Liegeplatz! Der Preis ist für Berlin phänomenal gut, vor allem für diese perfekte Lage. Der "Hafen" liegt an der Königstraße direkt neben dem Potsdamer Yacht Club, vom S-Bahnhof Wannsee läuft man ca. 7 Minuten und schon ist man da. Mit dem Regio braucht man vom Bahnhof Friedrichstraße bis Liegeplatz eine gute halbe Stunde. Was will man mehr! Ja, der Hafen ist nicht schick, es gibt ein Dixi-Klo und keine Duschen. Aber die Hurley 27 mit dem schreckliche Namen "Slow Motion 2.0" passte zum Hafen! Im Potsdamer Yacht Club o.ä. wäre das in die Jahre gekommene Boot wie ein Fremdkörper gewesen.
Auf dem Weg zurück nach Berlin einigten wir uns mit dem Verkäufer und der Bootskauf war besiegelt... UND PLÖTZLICH HATTEN WIR EIN BOOT!
Am 8. April 2019 fragte mich Oskar, ob es nicht Sinn macht ein Segelboot zu kaufen statt zu chartern und am 12. April waren wir schon stolze und überglückliche Bootseigner.
Am 13. April fuhren wir nach Werder, wo das Boot ins Wasser gekrant wurde. Von Werder tuckerten wir bei eisigem Winterwetter (ich hatte sogar eine Skihose, Handschuhe und Mütze an) unter Motor das Boot zum Wannsee zu unserem neuen Liegeplatz, wo es für den Sommer ein neues Zuhause hatte.